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IBB-Preis für Photographie für Anita Regli

Der Berliner Kurator Felix Hoffmann schreibt als Mitglied der Jury über das Werk der Preisträgerin des Jahres 2012.

1637

Als im 15. Jahrhundert über die Türkei die ersten Tulpenzwiebeln nach Europa kamen und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer wahren Blumenmanie führte, da nicht nur die europäischen Herrscherhäuser ihre Gärten mit bunten Blumen schmücken wollten, entstand der Grundstock heutiger Tulpenarten. Die Tulpenzwiebel wurde zum Handels- und Zuchtgut, heiß umkämpft und wertvoll. Die Serie „1637“ von Anita Regli zeigt uns das, was damals zum Spekulationsgut wurde. Denn einige wenige Händler versuchten durch Verknappung die Kontrolle über den Markt zu erlangen und lösten so enorme Preissprünge aus. 1637 brach der Markt dann zusammen – man spricht vom ersten „Börsenkrach“.

Regli fotografierte diese Tulpenzwiebeln vor schwarzem Hintergrund. In wissenschaftlicher Reihung sehen wir nichts als unterschiedliche Zwiebelformen – mal mit brauner Schale, mal etwas angegammelt mit dunklen Stellen – nichts jedenfalls deutet auf die Schönheit hin, die die Blumen einmal entfalten. Nur ist es die Typologie der organischen Formen oder die Vorstellung vom Keim neuen Lebens, das blühende Schönheit birgt, die den Betrachter herausfordert? In der Reihung der Zwiebeln einer Ausstellungsinstallation erzeugt Regli das, was Wissenschaft ausmacht: Vergleichbarkeit. Diese neutralisierende, wissenschaftliche Vergleichbarkeit eröffnet einen imaginären Raum vielleicht nach jenem Keim und in sich tragenden Potential, Neues und Unbekanntes entstehen zu lassen. Wie eine Zeitkapsel speichert sie das, was entstehen kann und zu neuem Leben führt.

One day happy birds

Eine Amsel, ein Star oder ein Buntspecht, immer auf einer gelben Stange sitzend vor wechselnd farbigem Hintergrund, der sich auf die Tiere zu beziehen scheint. In dieser Arbeit „One day happy birds“ greift Regli die wissenschaftliche Ordnung wieder auf. Schnell wird hier jedoch klar, dass die Tiere einen anderen Sinn verfolgen, als Leben zu suggerieren und vielmehr das Medium Fotografie zu hinterfragen. Mal steht eine Kralle etwas schief, mal sieht das Federkleid nicht mehr ganz so glänzend aus. Die Vögel scheinen vielmehr dazu zu dienen, Form und Ästhetik mittels Fotografie zu untersuchen: Wie verhalten sich die gläsernen Augenfarben oder Teile des Gefieders zum Hintergrund? Gibt es eine bestimmte Haltung, die ein Vogel hat? Hier geht es weniger um die Typologie unterschiedlicher Vogelarten, die einen Ornithologen interessieren würde. Zwar stellt sich in der Reihung der Vögel nebeneinander ein wissenschaftlicher Blick ein, deren vergleichende Logik man sich als Betrachter schwer entziehen kann. Die Vogelreihen erweitern diese akademische Herangehensweise der Tulpenzwiebelserie: was macht uns die Fotografie glauben? Es sind weniger die Positionen der Schnäbel, des Federkleids oder der Augen, die einen unmittelbar ansprechen, als die Frage: Wie konnte (wenn wir nicht wissen, dass die Vögel bereits tot sind) die Fotografin die Vögel so fotografieren? Warum sind sie nicht weggeflogen? Wie hat sie es geschafft das Flüchtige einzufangen?

Behind the silence

Zwei Augen schauen uns unverwandt an. Dort wo seit Jahren kein Mensch mehr gewesen zu sein scheint, sitzt inmitten eines ruinösen Raumes ein Iltis. Er hält inne, macht Männchen, als wäre er gerade beim Herumstreichen im halb verfallenen Gebäude von der Kamera entdeckt worden und würde in eben jenem Moment auf sie reagieren, da sich beide erkennen. Nur kann das sein? Schafft es jemand ein Tier so abzupassen und so lange auf der Lauer zu liegen?

Anita Regli hat diese Tiere für die Serie „Behind the silence“ in einem ehemaligen Hotel im schweizerischen Andermatt fotografiert, der vor langer Zeit aufgegeben worden war. Vandalismus und Bauelemtejäger haben ihre Spuren hinterlassen. Und nun finden sich in diesen Räumen so viele unterschiedliche Tiere ein, die alle durch die Räume streunen und von der Fotografin abgepasst werden?

Regli baut mit minutiöser Akribie diese Arrangements wie Stillleben vor der Kamera auf und schafft jenen Moment vor der Kamera einzufangen, der wirkt als wären diese Tiere noch lebendig. Die Tierpräparate, mit denen sie arbeitet sind dabei jenes Utensil, das schon in der Präparierung natürlichen Bewegungsabläufen und Situationen folgt. Seit ihrer Erfindung in der zweiten Hälfte des 18. Jh. folgen Präparatoren in der sog. „Taxidermie“ (Hautpräparation) nicht nur der Anatomie sondern verfolgen eine vermeintlich natürliche Haltung der Tiere und ziehen die haltbar gemachte Haut über ein Geflecht (meist aus Holz und Draht) in eine bestimmte Position und damit Pose. Zweifellos sind es eher die Wünsche, die ein Präparator an das Tier heranträgt, die sichtbar gemacht werden: Es ist die Modellierung nach einem Bild, das der Präparator sich von dem Tier gemacht hat, die weniger einer Bewegung, Haltung oder Pose in der Wildbahn folgt, als vielmehr einem subjektiven Idealbild. Im Grunde zeigen Reglis Bilder deshalb im doppelten Sinne, welches Bild wir von den Tieren haben – und indirekt die Präparatoren für uns entwerfen. Nicht: So ist die „Natur“ – sondern: So ist die Natur, wie wir sie uns vorstellen (wollen). Darin passt der Ort der Inszenierung, den Anita Regli sich ausgesucht hat, umso mehr: ein altes, totes Hotel.

Das ausgestopfte Tier wird so wieder lebendig gemacht. Unabhängig von den präparierten Körpern vor der Kamera leistet die Fotografie jedoch erstaunliches: Sie verschleiert den Moment zwischen Leben und Tod, denn auf den Fotos ist es nahezu unmöglich, ob die Tiere sich nicht doch durchs Haus schleichend von der Kamera abgebildet wurden. Tod und Leben werden so im Foto in eines transformiert und auf ihre mediale Qualität hin untersucht und das Tier gleichsam wiederbelebt. Denn was macht die Fotografie, wenn sie Lebendiges still stellt und was, wenn sie Totes wie lebend darstellt? Dieser Moment der Frage an das Bild macht auch deren Reiz aus: Was sehen wir und können wir dem fotografischen Bild vertrauen? Bildet es jenen authentischen Moment ab, den wir meinen im Bild zu sehen?

Als in den 1880er Jahren Edweard Muybridge und Etienne Jules Marey lebende Tiere in Bewegung festhielten, ging es genau um diese Fragestellung. Tiere konnte man wegen der langen Belichtungszeiten bis dahin kaum, flau oder verwischt auf Kollodiumpapier festhalten. Erst spezielle sequenzierende Apparaturen machten es möglich, Bewegungsabläufe in Einzelbilder zu zerteilen und dadurch festzuhalten. Dies bedeutete auch, dass man sie selten in Ruhepositionen fotografieren konnte und schon gar nicht in freier Wildbahn. Denn je näher man dem Tier kam, umso genauer man es fotografieren konnte, umso näher war es dem Tod. Denn im Studio des 19. Jahrhunderts landeten – wenn überhaupt – nur tote, oder eben ausgestopfte Tiere. Die Fotografie schaltet dabei nicht nur die Gefahren aus (wenn man später ein Tier in freier Wildbahn fotografiert sieht) sondern zähmte und bezeugte das Gesehene. Gleichzeitig wurde das fotografische Bild zum Werkzeug der Wissenschaft, das Gesehenes bezeugte: So sieht das Tier aus, so ist es gewesen. Zweifellos stehen dabei heute Tierfilme Pate, in denen Tiere in freier Wildbahn gezeigt werden. Sie speisen sich aus jenem Authentizitätsversprechen, das eine Natur suggeriert, so wie wir sie uns vorstellen und wie sie auszusehen hat. Reglis Bilder sind deshalb so verwirrend, weil wir die Bilder aus Tierfilmen kennen, die so ähnlich aussehen. Interessanterweise scheint die Fotografie dafür ein prädestiniertes Medium zu sein: Sie hat über die ersten Jahrzehnte nach ihrer Erfindung betont, wie authentisch, wirklichkeitsgetreu und wahr sie Bilder festhalten kann. Das was wir sehen, hat es so gegeben, und nicht anders.

Kein anderes bildgebendes Verfahren baut auf unterschiedlichen Ebenen Bezüge zu Tod und Vergänglichkeit auf, wie die Fotografie. In den Tierbildern Reglis bleibt offen, wie stark die Inszenierung die Grenze zwischen Leben und Tod verunklärt. Die Fotografin führt uns darin zu einem merkwürdigen Widerspruch zurück. Die dominante Auffassung der Fototheorie, die das genaue Gegenteil der Wiederbelebung der Tiere behauptet: In vielen fototheoretischen Texten wird davon ausgegangen, dass das Verfahren der Fotografie erst zum Tod des Fotografierten Objekts führe. Ob Siegfried Kracauer, Susan Sontag oder Roland Barthes, sie alle rekurrieren auf „die todbringenden und kaltstellenden Eigenschaften des modernen Speichermediums“, die ins Zentrum einer Medienanalyse gerückt wurden. Verknappend argumentiert dabei etwa Susan Sontag, die den Gedanken entwickelt, dass die Fotografie ein Vorher und Nachher markiere, das sich als Schnitt in einer zeitlichen Sequenz an seinem Gegenüber manifestiere und in der Fixierung zum Tod desselben führen müsse. Der Augenblick der Bildherstellung sei somit in der Stillstellung gleichsam der Augenblick des Todes, und so jene Zäsur, die die Fotografie notwendigerweise vollziehen muss, um ein Bild zu erhalten. Sontag begreift die Fotografie als Ausschnitt aus Raum und Zeit, der durch variable Größen einen Rahmen bestimmt, und so den Informationsgehalt einer Fotografie an diese Konstanten koppelt.

Im Einfrieren eines Moments erkennt sie einen „Widerspruch zur Form dieses Lebens, die eine Abfolge von Ereignissen, also vom Fluß der Zeit bestimmt ist“. Auch Barthes spricht von diesem ‘Gerinnungsmoment’, das er an eine in der Fotografie angelegte Todesmetaphorik knüpft. Der Tod ist, nach Sontag und Barthes, in der Fotografie per se angelegt und konstituiert die Besonderheit des Mediums: Ein Foto schafft bloße „Pseudo-Präsenz“ und steht eigentlich im „Zeichen der Abwesenheit“. Das Beispiel der Fotografie von toten Tieren steht jedoch im Widerspruch zu Sontags These: hier zeigt die Aufnahme eben jene Abwesenheit des Fotografierten. Oder mit anderen Worten: In dem Moment, wo die per se mortifizierende Fotografie dem Tod unmittelbar begegnet, schafft sie zwar auch kein Leben, sorgt aber für eine Aufhebung der Zeit in der Verewigung eines Moments. Der aus einem Kontinuum herausgesprengte Zeitpartikel beginnt sich aus seiner individuellen Vergangenheit in eine potentiell infinite Zukunft zu strecken.

Jene medialen Fragestellungen an das Medium Fotografie und die klare Umsetzung in drei vielseitigen Serien hat die Jury des IBB-Preises für Fotografie überzeugt, den Preis in 2012 an Anita Regli zu vergeben.


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